ENTSTEHUNG
Bilder - Alle Augenblicke
Ulrich Kavka
Eine eher überschaubare Laubwaldung „Die Kühlung“
bekrönt das mächtige eiszeitlich geformte Geschiebe.
Der allmählich emporsteigende Endmoränenrücken
überragt den Wasserspiegel der nahen Ostsee, über
die man ausgedehnt und weit hinwegblicken kann, um
mehr als hundert Meter. Die mulden-, hecken- und wiesenreiche
Landschaft zwischen dem hellsandigen breiten
Strand der Mecklenburger Bucht, dem lebhaften,
bisweilen eleganten Seebad Kühlungsborn und dem
überraschend abgründig zerklüfteten Gehölz besitzt
einen eigentümlich anregenden Reiz, der durchaus
existentielles Nachsinnen in Gang setzt. So pendeln
die Gemütsbewegungen gelegentlich vom Sog in die
massenhaften, lauten, auch körpernahen Gemeinschaften
hin zu beinahe totaler Vereinzelung: zur Stille,
zur Ruhe, zum Einssein mit sich – in der Natur. Und solcherweise
empfindsame Wahrnehmungen aus dem
Radius der Seele finden ihr abbildhaftes Echolot nahezu
gleichartig über dem sich ständig, scheinbar orakelhaft
wandelnden Horizont des baltischen Gewässers.
Man muss nur fühlen – und sehen! Es mag ein
Geheimnis bleiben, warum sich gleichermaßen, dort
wie hier, die Hektik des Alltags nahezu zwangsläufig
zurückzieht. Vielleicht liegt es am rhythmischen Gleichmaß
des Meeres oder an der Sanftheit der Geländeformationen
oder an der auf Schritt und Tritt empfundenen
Gastlichkeit oder am verlässlichen, ruhigen
Wesen der Küstenbewohner ... Wer für Momente die
Querelen der Zeit zurückdrängt und die sündhaften
Eingriffe der Zivilisation übersieht, der könnte ohne
Umschweife glauben, auch hier habe der Schöpfer
sein Paradies wenigstens ausprobiert! Vielleicht ist aus
solchem Grund der naturbegüterte Landstrich ein wirklich
geliebtes Refugium, vorübergehend für die einen,
die großenteils immer wieder kommen, und dauerhaft
für die anderen – Lebensmittelpunkt nun und Heimat.
Als vor etwa fast einem Jahrzehnt zwei Menschen
einen Ortswechsel von der Wirtschafts- und Kulturmetropole
Hamburg zunächst sprichwörtlich nach
„Irgendwo“ anstrebten, dann taten sie das mit dem bewusst
einkalkulierten Verzicht auf eine gesellschaftlich
wie materiell eigentlich vortrefflich etablierte Lebenslage.
Sie suchten also nicht ursächlich ein neues Domizil
für sich, sondern die treibenden Kräfte gingen,
ungewöhnlich genug, von Kunstwerken aus: von Zeichnungen,
Aquarellen, Druckgraphiken, Tafelbildern ...,
die ihnen in doppelter Bedeutung nahe standen. Konvolute,
welche auf ihre individuelle und durchweg mit
künstlerischer Meisterschaft geformte Weise auch die
widersprüchlichen politischen und kunstgeschichtlichen
Verläufe eines ganzen, nämlich des 20. Jahrhunderts
bezeugen. Wohl einmalig an den umfangreichen
Beständen ist, dass es sich nicht um eine
Sammlung im herkömmlichen Sinne handelt. Jedes
einzelne Werk, vom ältesten bis zum jüngsten, ist im
Wortsinn auch ein Familien-Bild, signifikant durch all
die verwurzelten, verzweigten, vielfältigen biologischen,
seelischen und geistigen Bindungen. So stimuliert
und befördert eine vorbildhaft aufgeschlossene
oder in kritischer Distanz geführte künstlerische Zwie -
sprache mit dem Schaffen von Waldemar Rösler
(1882–1916), Oda Hardt-Rösler (1880–1965), Walter
Kröhnke (1903–1944 im Krieg vermisst), Louise Rösler
(1907–1993) und Anka Kröhnke (geb. 1940) respektvolles
Erkennen und Anerkennen. Schon die wenigen
Personaldaten lassen im Kontext mit den zeitgeschichtlichen
Verwerfungen durch das Kaiserreich, den
I. Weltkrieg, die Weimarer Republik, das „Dritte Reich“,
den II. Weltkrieg, die Nachkriegszeit, die Deutsche Teilung
und die Wiedervereinigung ahnen, unter welchen
Opfern, Einschränkungen und bedrückenden Umständen
die jeweiligen OEuvres erarbeitet und beieinander
gehalten wurden.
Sich seinem Werk unbeirrt verbunden zu fühlen, bedeutet
ja nichts anderes, als eben charaktervoll bei
sich, also bei den gewonnenen Überzeugungen zu
bleiben: allen Widrigkeiten, Anfeindungen oder Miss -
achtungen zum Trotz. Und in diktatorischen Zeiten ist
diese Haltung eine überzeugende politische Demons -
tration! Schon immer war es so, dass Reglementierungen, Verbote und Einschränkungen der persönlichen
und künstlerischen Freiräume Angst einflößen
und Anpassung erzwingen sollten. Bei den betroffenen
Künstlern der Familie findet sich indessen nicht die geringste
Spur, durch dergleichen latente Bedrohungen
jemals ihre zeitgenössischen künstlerischen Positionen
wankelmütig in Frage gestellt zu haben! „Bilder aus
dem Versteck“ lautet denn auch der Titel einer Ausstellung,
mit der das fünfjährige Bestehen des hochrangigen
Generationenmuseums hervorgehoben wird.
Es ist also nicht nur verwandtschaftliche Fürsorge,
sondern eine öffentlich herausragende kulturelle Verantwortung,
die Anka Kröhnke und Hanno Jochimsen
vor Jahren veranlassten, für die Kunstwerke einen würdigen
und angemessenen Ort der Präsentation zu finden.
Das Ausspähen von geeigneten, bezahlbaren
Behausungen hatte wohl auch Züge einer kleinen
Odyssee durch Norddeutschland, um schließlich doch
noch „belohnt“ zu werden – mit einem verwahrlosten
ehemaligen Ausflugscafé am Rande der „Kühlung“,
aber mit parkähnlicher, freilich schon wildwüchsiger
Umgebung und einem sagenhaften Panoramablick:
hoch genug über der See, den immerfort andersartigen
Wechsel von Witterung, von Tag-, Nacht- und Jahreszeiten
vor Augen.
Wenn Häuser und Grundstücke in einer schönen Gegend
so etwas Ähnliches wie der Nabel der Welt sein
können, dann trifft das augenscheinlich auch auf das
im Jahr 2004 völlig sanierte Atelierhaus Rösler-
Kröhnke zu. Eingebettet in eine bewusst auf Entspannung
und Gelassenheit angelegte Gartenkultur prägt
im Inneren das Weiß die maßvollen und vom Licht
durchfluteten Räume. In solchem wortwörtlich klangvollen
Rahmen von Draußen und Drinnen können die
Kunstwerke leben, auch durch die örtliche Transparenz
und Unmittelbarkeit zu den Farben der durchaus absichtsvoll
arrangierten Blumen, Gräser, Sträucher und
Bäume, die der Betrachter ganz beiläufig als Kontrapunkte
zu den Valeurs des feinsinnigen künstlerischen
Motivuniversums empfinden mag – selbstverständlich
parallel zur Natur. Gespeist aus den Nachlässen gelangen
die bislang im Depot verborgenen Bilder in das
öffentliche Interesse hoffentlich so eindringlich, dass
sie niemand mehr übersehen kann oder will!
Und damit sich das alles gedeihlich, vor allem zukunftssicher
weiterentwickelt, unterstützt ein Förderkreis
von Kunstwissenschaftlern, Journalisten, Betriebswirten,
Verlegern … das außergewöhnliche Engagement
von Anka Kröhnke. Denn natürlich ist ihr nicht nur als
Nachlasspflegerin, sondern auch als tätige Künstlerin
das schöpferische Wirken der Eltern und Großeltern
eine unbedingte Herzensangelegenheit. Auch das wird
jeder, der Bilder wirklich liebt, wohlwollend gerne zur
Kenntnis nehmen.